Rechtsvermutungen und Fiktionen in privatrechtlichen Verträgen

Rechtsvermutungen und Fiktionen sind ein traditionelles und auch in der Vertragsausgestaltung gängiges Rechtsinstitut, so dass praktisch jeder von uns bereits irgendwann einmal der einen oder anderen Variante begegnet ist.

Rechtsvermutungen werden weiterhin in widerlegbare und unwiderlegbare unterteilt, während es nur eine Art von Rechtsfiktionen gibt. Allen ist gemeinsam, dass sie in der jeweiligen konkreten Situation für Rechtssicherheit sorgen sollen, insofern als sie generell an die Stelle einer unsicheren oder nicht eingetretenen Situation treten (die aber hätte eintreten sollen oder können, aber nicht eintreten müssen).

In Rechtsvorschriften wird die widerlegbare Vermutung üblicherweise mit den Worten „es wird davon ausgegangen“ eingeleitet, um einen rechtlich relevanten Umstand vorauszusetzen. Schon aus dem Namen ergibt sich, dass diese Vermutung durch entsprechenden Beweis (des Umstands, dass die Tatsache eben eingetreten ist (oder nicht)) widerlegt werden kann und dann hinter die Sachlage zurücktritt. Typische Beispiele aus der Vertragspraxis sind die Annahme des guten Glaubens bei Personen, die ein Rechtsgeschäft eingehen, oder etwa die „implizite Lizenzberechtigung“ gemäß § 2376 Abs. 2 BGB-cz. Außerhalb von Verträgen begegnen wir etwa der Vermutung der Vaterschaft auf Seiten des Ehegatten der Kindesmutter, oder der Unschuldsvermutung im Strafrecht.

Bei der unwiderlegbaren Vermutung ist die Präsumtion kategorischer Natur; ein etwaiger anschließender Gegenbeweis kann sie nicht entkräften. Typischerweise wird sie mit den Worten eingeleitet: „es gilt, dass“. Diese Vermutung ist weniger typisch; Beispiele finden wir z.B. bei der Vermutung des unbefristeten Mietverhältnisses oder der Vermutung der Nichtexklusivität einer erteilten Lizenz (in beiden Fällen freilich nur dann, wenn die Parteien in dieser Hinsicht keine ausdrückliche Abrede getroffen haben).

Mit Rechtsfiktion wird schließlich ein Mechanismus bezeichnet, mit dem ein Zustand fingiert wird, der mit Sicherheit nicht eingetreten ist. Es handelt sich also um eine künstlich geschaffene Konstruktion einer rechtlich relevanten Tatsache, die (generell) nicht existiert. Am bekanntesten dürfte in der Rechtspraxis der Fall der Fiktion der Zustellung sein: nach Ablauf einer gesetzten Frist gilt eine Sendung auch dann als zugestellt, wenn sie nicht angenommen bzw. abgeholt wurde, mit allen damit verbundenen Folgen (wie etwa dem Beginn des Fristenlaufs für eine mögliche Berufung gegen eine gerichtliche Entscheidung oder einen Widerspruch gegen einen Veraltungsbescheid). Hier ist es völlig ohne Belang, ob der Adressat die Sendung später doch noch annimmt, oder ob er gar von der Sendung niemals erfahren hat. Rechtsfiktionen werden im Regelfall mit den Worten eingeleitet: „gilt als“, „wird betrachtet, als ob“.

Vertragliche Vermutungen und Fiktionen nach der früheren Rechtslage

Im vorstehend beschriebenen Sinn sind Rechtsvermutungen und Fiktionen in verschiedensten vertraglichen Kontexten gang und gäbe, eben um Situationen zu überbrücken, die hätten eintreten sollen, aber aus irgendeinem Grund nicht eingetreten sind; typisch ist etwa eine Konstruktion des Wortlauts: „findet sich der Auftraggeber trotz Aufforderung nicht zur Übernahme des Werks ein, so wird davon ausgegangen, dass er das Werk ohne Vorbehalt gutgeheißen und übernommen hat“. auch stößt man regelmäßig auf Vertragsmechanismen zur Zustellung von Mitteilungen, so z.B. „wird davon ausgegangen, dass die abgesandte Mitteilung am dritten Tag nach Aufgabe bei der Post zugestellt wurde“.

Leider wird diese kommerzielle und rechtliche Praxis vom Obersten Gerichtshof nicht eben mitgetragen. In seinem Urteil vom 3.12.2008 (AZ 32 Cdo 2536/2007) führt er aus, „die rechtliche Vermutung (sei) eine Konstruktion, die nur kraft Gesetzes geschaffen werden kann, und die bei Vorliegen der gesetzlichen Bedingungen die Notwendigkeit zeitigt, die Existenz eines Umstands (unbedingt oder bedingt) vorauszusetzen, von dem nicht sicher ausgegangen werden kann, dass er existiert, bzw. der sogar mit Sicherheit nicht existiert… Eine solche Rechtsvermutung lässt sich nicht durch vertragliche Parteienabrede schaffen.“

Diese Rechtsmeinung taucht in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wiederholt auf. In einem Urteil vom 18.3.2010 (AZ 23 Cdo 5508/2007) heißt es: „Soweit eine Vermutung dazu dienen soll, Situationen zu bewältigen, in denen uns die Realität keine Lösung bietet, ist augenscheinlich, dass die Konstruktion solcher Vermutungen, deren Charakter und die mit ihnen verbundenen Folgen allein dem Recht vorbehalten sein können. Die Willensautonomie der Vertragsparteien kann hier nicht die vom Gesetz verwendeten Regulative erweitern und – letztlich willkürlich – neue rechtliche Tatsachen und die mit ihnen verbundenen Rechtsfolgen schaffen.“

Das vom OGH geschlossene Fazit ist kategorisch (auch wenn es eher auf den prozessrechtlichen Auswirkungen von Rechtsvermutungen und Fiktionen beruht): „Aus verfahrenstechnischer Sicht ist die Behauptung nicht statthaft, es gelte im Prozessrecht der Grundsatz, was nicht verboten sei, sei erlaubt. Vielmehr gilt der entgegengesetzte Grundsatz, wonach abweichende Vereinbarungen nur dort zulässig sind, wo das Prozessrecht dies ermöglicht. Eine Parteienabrede zur abweichenden Gestaltung der Beweislast – als Institut des öffentlichen Zivilprozessrechts – wäre damit nur dann möglich, wenn die Zivilprozessordnung eine solche vorsieht. Da nun aber keine gesetzliche Regelung existiert, die von einer Vereinbarung bezüglich der Beweislast ausgeht, darf geschlossen werden, dass die Parteien eine solche Vereinbarung nicht eingehen können. Der Oberste Gerichtshof gelangte von daher zu der Auffassung, dass es nicht möglich ist, eine unwiderlegbare Rechtsvermutung zu vereinbaren und auf deren Grundlage einer der Parteien die Ausübung ihres gesetzlich verbürgten Rechts abzusprechen, ohne dass sie die Echtheit ihres Anspruchs nachweisen könnte.“

Eine andeutungsweise „Lösung“ lieferte der Oberste Gerichtshof z.B. in seinem Beschluss vom 6.4.2017 (AZ 23 Cdo 4923/2016), worin er eine vertragliche Abrede beurteilte, die mit dem fruchtlosen Verstreichen einer Frist, während derer Anmerkungen zur konkreten Fassung eines Werks gemacht werden konnte, den weiteren Verlauf der Vertragsbeziehung der Beteiligten verband („trat die Herstellung der Sendung in die nächste Produktionsphase ein“). Einer der Beteiligten hatte das o.g. Verbot von Rechtsvermutungen und Fiktionen in Verträgen eingewandt, doch war dies gemäß OGH im zu lösenden Fall nicht einschlägig, weil es lediglich um eine bestimmte Abfolge aufeinander folgender Schritte ging.

Dennoch wurden sämtliche o.g. Verbote im Urteil des OGH vom 4.3.2020 (AZ 32 Cdo 1287/2018) bestätigt, in dem ohne Weiteres auf die (weiter oben abgehandelten) Urteile AZ 32 Cdo 2536/2007 und 23 Cdo 5508/2007 Bezug genommen wurde. Laut abschließender Zusammenfassung des Gerichts: „eine Rechtsvermutung … kann nur kraft Gesetzes begründet werden“, bzw. „eine Konstruktion von Rechtsvermutungen, deren Charakter und die mit ihnen verbundenen Folgen sind allein dem Recht vorbehalten.“

Von Bedeutung ist freilich, dass sämtliche bisher besprochenen Entscheidungen die Rechtslage vor der umfassenden Neugestaltung des Privatrechts betreffen, also den rechtlichen Rahmen bis Ende 2013.

Vertragliche Vermutungen und Fiktionen nach heutiger Rechtslage

In einer Entscheidung aus jüngerer Zeit – konkret dem Urteil vom 23.3.2022 (AZ 23 Cdo 1001/2021) – beurteilte der OGH eine wie folgt lautende Vertragsklausel: „findet sich der Auftraggeber ohne triftigen Grund wiederholt (mindestens 2x) nicht zur Abnahme des Werks ein… so gilt das Werk als ordnungs- und fristgemäß übergeben“.

Der OGH ging von der grundlegenden Prämisse aus, dass das Bürgerliche Gesetzbuch von 2012 primär vom Respekt für die Parteienautonomie geprägt ist und den Akzent nicht länger auf die formellen Aspekte der Willenserklärung setzt, die für den Vorläufer des BGB typisch waren, sondern eben auf den Aspekt des tatsächlichen Willens der Handelnden. Laut OGH muss dies auch für Parteienabreden gelten, in denen Wortverbindungen wie „wird … als betrachtet“, „soll als … ausgelegt werden“, „gilt, dass“ usw. verwendet werden.

Des Weiteren wurde vom OGH hergeleitet, es müsse zunächst geprüft werden, ob die Möglichkeit, eine solche Vereinbarung einzugehen, gesetzlich verboten ist, oder ob es sich eine Vereinbarung im Einklang mit abdingbaren gesetzlichen Regelungen handelt (also übertragen gesprochen, ob ein ausdrückliches gesetzliches Verbot vorliegt; ob die Vereinbarung gegen die guten Sitten, die öffentliche Ordnung oder Rechte betreffend die persönliche Rechtsstellung verstößt; und ob das Rechtsgeschäft dem Gesetz widerspricht – jeweils dort, wo dies nach Sinn und Zweck des Gesetzes erforderlich ist).

Aber auch dort, wo die Übereinstimmung mit diesen Kriterien bejaht wird, bleibt laut OGH zu prüfen, in welcher Rechtsstellung sich die Parteien bei Vertragsschluss befanden – ob in der ebenbürtigen Rolle zweier Vollkaufleute, oder ob eine von ihnen die schwächere Partei ist (sei es als Verbraucher oder als schwächeres Unternehmen). In einem solchen Fall müsste die konkrete Vereinbarung der Parteien mit dem Maßstab der gesetzlichen Regelungen daraufhin geprüft werden, ob sie nicht zu Missbrauch der Rechtstellung eines Unternehmens zu Lasten der schwächeren Partei führt. Soweit das Rechtsgeschäft die guten Sitten verletzt, sind entsprechende Korrektive auch in B2B-Beziehungen anzuwenden.

Zusammenfassend befand das OGH, „Vereinbarungen zwischen Parteien in einem privatrechtlichen Vertrag, die die von ihnen beabsichtigten Rechtsfolgen vermittels bestimmter typischer Wortverbindungen zum Ausdruck bringen (z.B. „gilt als“, „wird davon ausgegangen“, „dann gilt, dass“), welche in Rechtsnormen im Regelfall darauf hindeuten, dass es sich um Rechtsvermutungen oder Rechtsfiktionen handelt, sind nicht bereits allein aus diesem Grund ungültig. Bei derartigen Abreden ist vielmehr in jedem Einzelfall zu prüfen, auf welche Rechtsfolge der Parteienwille abzielt, und ob die Vereinbarung angesichts der konkreten Umstände nicht gesetzlich verboten oder sittenwidrig ist.“

Fazit

Die vom Obersten Gerichtshof in der letztgenannten Entscheidung zum Ausdruck gebrachten Schlussfolgerungen sind für die Praxis eher vorteilhaft. Dennoch muss auch weiterhin im Auge behalten werden, dass die Antwort auf die Frage, ob vertragliche Vermutungen und Fiktionen zulässig sind, zwar nicht länger kategorisch „nein“ lautet, aber auch weiterhin mit einem „ja, aber…“ behaftet ist.

Die Antwort muss nämlich in jedem Einzelfall Folgendes berücksichtigen: (1) Abdingbarkeit der fraglichen Rechtsvorschriften, (2) Umfang und Art der Abweichung von der gesetzlichen Regelung, und insbesondere (3) Stellung der Vertragsparteien. Alle diese Aspekte müssen selbstverständlich in ihrer Gesamtschau beurteilt werden. Jedenfalls ist diese Abkehr von früheren richterlichen Schlüssen auf den Geltungsbereich des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 2012 beschränkt; Vertragsverhältnisse, die geschaffen wurden, bevor das BGB 2012 in Kraft trat, müssen auch weiterhin aus der früheren, strengeren Sicht betrachtet werden.

Auch unter den neuen „gelockerten“ Verhältnissen bleibt zu erwägen, ob der Problemkreis von Rechtsvermutungen und Fiktionen nicht so weit wie möglich beschränkt werden sollte, indem sie unter Zuhilfenahme anderer Rechtsinstitute „transformiert“ werden, idealerweise durch Vornahme eines Rechtsgeschäfts. Also z.B. so, dass anstelle der Vermutung der Einwilligung (bei Nichterscheinen) ein Recht vereinbart wird, wonach die Übernahme oder Freigabe des Werks ausgesprochen werden darf, wenn die andere Partei zum Thema schweigt oder sich nicht zum Übernahmetermin einfindet.

Quelle:
Beschluss des OGH vom 6.4.2017 (AZ 23 Cdo 4923/2016)
Urteil des OGH vom 4.3.2020 (AZ 32 Cdo 1287/2018)
Urteil des OGH vom 3.12.2008 (AZ 32 Cdo 2536/2007)
Urteil des OGH vom 23.3.2022 (AZ 23 Cdo 1001/2021)

Newsletter abonnieren

Wenn Sie den Newsletter abonnieren, stimmen Sie zugleich unseren Datenschutzbedingungen zu.