Liberalisierung im deutschen StAG in Kraft getreten

Besser spät als nie. Die deutsche Staatsbürgerschaft als Wiedergutmachung – großzügige Liberalisierung im deutschen StAG in Kraft getreten.

Eine weitreichende Liberalisierung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts ist, ohne große öffentliche Diskussion, am 20. August 2021 in Kraft getreten. Mit diesem Gesetz hat der Bundesgesetzgeber nach mehr als 70 Jahren endlich den Auftrag aus Art. 116 Abs. 2 GG eingelöst („C´est mieux tard que jamais“), und er hat so den in Art. 116 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch endlich ins Staatsbürgerschaftsgesetz übernommen. Die Folge ist, dass für jüdische, aber auch politische Emigranten aus dem Deutschen Reich in den Jahren 1933 bis 1945 und deren Nachkommen der Weg zum deutschen Pass einfacher, aber nicht einfach geworden ist, und dass nun auch viele in den Genuss dieser Regeln kommen, deren Vorfahren nie deutsche Staatsbürger waren.

Der Bundestag und der Bundesrat haben am 24. und 25. Juni 2021 in einem sehr schnellen Verfahren an den beiden letzten Tagen vor der Sommerpause die Änderungen im StAG so umgesetzt, wie sie vorgeschlagen waren (dazu unser Artikel: „Neue Möglichkeiten für jüdische Emigranten aus Deutschland und Österreich sowie neue Hindernisse für Emigranten aus der ehemaligen Tschechoslowakei“, cf. https://www.bnt.eu/de/?option=com_content&view=article&id=3191&catid=219). Es waren am Ende allerdings noch Verschärfungen in das Gesetz hereingekommen, die sich aber weniger gegen jüdische Emigranten und deren Nachkommen richten, sondern gegen Antragsteller, die antisemitische und andere verfassungsfeindliche Tendenzen haben. Bei entsprechenden Verurteilungen ist eine Einbürgerung ausgeschlossen. Ob das Sinn macht, ist fraglich, denn Antisemitismus und Rassismus sind seit langem ein Problem bei einer festen, aber kleinen Minderheit von ohnehin deutschen Staatsbürgern, und viele Rassisten und Antisemiten in Deutschland kämpfen weniger mit dem Staatsbürgerschaftsrecht, als mit dem Ausländer-, Asyl- und Flüchtlingsrecht. Jüdische Emigranten und deren Nachkommen sind in der Regel keine Antisemiten.

Bei den jetzt in Kraft getretenen Änderungen blieb es bei dem Entwurf (eine Ergänzung von § 14 StAG soll die Anträge auf deutsche Staatsbürgerschaft von Antragstellern aus dem Ausland erleichtern; das war bisher nur den Gattinnen von Botschaftern vorbehalten, wurde aber auch solchen Antragstellern ermöglicht, die durch das strenge Raster von Art. 116 Abs. 2 GG gefallen waren): neue Einbürgerungsmöglichkeiten gibt es als Wiedergutmachung im geänderten § 5 StAG – mit einem Erklärungsrecht bis zum Jahre 2031 -, und im neuen § 15 StAG, durch den neue Fallgruppen zeitlich unbeschränkt einen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft haben – (für die Einzelheiten unser oben genannter Artikel). An dieser Stelle ist aber noch eines klarzustellen: der Begriff jüdisch oder rassisch, auch in den Fragebogen des Bundesverwaltungsamts (BVA) in Köln, muss in dem Sinne der Nürnberger Gesetze von 1935 ausgelegt werden, das liegt in der Logik des Art 116 Abs. 2 GG. Dies bedeutet, dass auch solche Emigranten in den Genuss von Art. 116 Abs. 2 GG kommen, die sich selbst nach 1933 gar nicht mehr als Juden ansahen, z.B. wegen einer christlichen Taufe lange vor dem Jahre 1933, sondern die von den Nazi-Behörden in der Auslegung der Nürnberger Gesetze als Juden angesehen wurden, d.h. bei mindestens drei jüdischen Großeltern oder bei sog. „Mischlingen“ dann, wenn noch andere Merkmale (z.B. Synagogenbesuch) dazukamen.

Die qualitative Änderung des StAG – über Art. 116 Abs. 2 GG hinaus – liegt ab Juli 2021 darin, dass der Kreis der Anspruchsberechtigten erweitert worden ist auf solche Emigranten aus Deutschland, die selbst nie und deren Vorfahren selbst auch nie Staatsbürger des Deutschen Reichs, also Staatsbürger im Sinne von Art. 16 und Art. 116 Abs. 2 GG, waren. Die jetzt erfolgte Erweiterung ist erstaunlich: denn mit diesen Änderungen sind jetzt quasi alle Juden und andere rassisch Verfolgte (z.B. Roma und Sinti) und politisch Verfolgte und deren Nachkommen anspruchsberechtigt, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, obwohl sie selbst nie deutsche Staatsbürger waren. Dies betrifft insbesondere die Juden in den besetzten Gebieten, deren Nachbarn als Deutsche kollektiv eingebürgert worden sind, die aber selbst aus rassischen Gründen nicht als Deutsche eingebürgert wurden – weil sie „artfremden Blutes“ waren (z.B. im sog. Sudetenland, also den Gebieten der Tschechoslowakei, die in München Ende September 1938 an das Deutsche Reich abgetreten worden waren, aber auch in den restlichen Gebieten der Tschechoslowakei, insbesondere dem Protektorat Böhmen und Mähren). Das gleiche gilt auch für alle Juden in Österreich, die österreichische oder nicht österreichische Staatsbürger waren: diese wurden nicht als Deutsche nach März 1938 eingebürgert, sondern wurden staatenlos, oder blieben z.B. polnische, rumänische, ungarische Staatsbürger, waren aber den gleichen Verfolgungen ausgesetzt wie ihre jüdischen Nachbarn und mussten deswegen emigrieren. Das gleiche gilt jetzt für Juden aus Memel und Danzig (die waren keine deutschen Staatsbürger im März oder September 1939).

Von §§ 5, 15 StAG werden ab jetzt auch alle polnischen, rumänischen (z.B. aus der Bukowina), ungarischen und anderen Juden und deren Nachkommen profitieren, die nach 1933 in Deutschland wohnten und die wegen der Verfolgungen emigrieren mussten (das geschah meist bis Ende August 1939), die aber nie deutsche Staatsbürger waren. Im Deutschen Reich betrug z.B. die Anzahl von Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft bis zu 70000, in Berlin ca. 20000, der im nachhinein prominenteste von ihnen war Marcel Reich-Ranicki, der Ende Oktober 1938 festgenommen und Anfang November 1938 nach Polen deportiert wurde. Theoretisch können auch alle ausländischen Kommunisten, die nach dem 30. Januar 1933 aus dem Deutschen Reich fliehen mussten, sowie alle deren Nachkommen, nun den Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft stellen. Das kann Staatsbürger aus aller Herren Länder betreffen.

Zudem wurde im StAG klargestellt, dass diese Regelung unbegrenzt gilt: während bei deutschen Staatsbürgern der doppelte Generationenschnitt in § 4 Abs. 4 Satz 1 StAG gilt, d.h. Kinder von deutschen Staatsbürgern, die im Ausland geboren wurden und deren Eltern selbst nach dem 1.1.2000 im Ausland geboren waren, werden nicht automatisch deutsche Staatsbürger, es sei denn, sie zeigen ihre Geburt innerhalb eines Jahres bei den deutschen Behörden, auch der Botschaft, an, so gilt für Emigranten im Sinne von §§ 5, 15 StAG und Art. 116 Abs. 2 GG diese zeitliche Grenze nicht. Zudem ist noch der Sprachtest für die Antragsteller nach §§ 5,15 StAG weggefallen, bisher war dieser obligatorisch für die Antragsteller beim bisherigen § 14 StAG (nicht Art. 116 Abs. 2 GG), allerdings wurde die deutsche Sprache eher symbolisch in den Botschaften und Generalkonsulaten getestet.

Im Ergebnis gilt: weltweit gibt es ab jetzt eine unbekannte Anzahl von Personen, die Anspruch auf (Wieder-)Erteilung der deutschen Staatsbürgerschaft haben. Es „reicht“ ein Antrag nach §§ 5, 15 StAG und Art. 116 Abs. 2 GG, aber es müssen Nachweise zur Geburt, Heirat und Abstammung praktisch bis ins Jahre 1900 oder früher vorgelegt werden (Geburts-, Heirats-, Wohnsitzurkunden, alte Pässe müssen auf Dachböden und in Kisten der Vorväter gesucht werden, ggf. müssen diese Unterlagen als Duplikate wieder beantragt werden, was in der Regel sogar einfacher ist). Die Nachfahren müssen dann alle späteren Urkunden (aus den USA, UK, Australien, Israel, Südamerika etc.) mit Apostille ausstellen und ins Deutsche übersetzen lassen, wobei mittlerweile auch englischsprachige Urkunden akzeptiert und Urkunden aus der EU im Format der EU-Verordnung 1191/2016 ausgestellt werden können und dann weder einer Apostille, noch einer Übersetzung ins Deutsche bedürfen. Zusätzlich sind aktuelle Führungszeugnisse notwendig (schon wegen der antisemitischen Straftaten – bei Nachfahren von jüdischen Emigranten eine ziemlich absurde Bedingung). Auch widerspricht diese Bedingung des sauberen Strafregisters dem Gedanken der Wiedergutmachung.

Ein weiterer Wermutstropfen ist die lange Bearbeitungszeit beim Bundesverwaltungsamt (BVA) in Köln (bis zu drei Jahre – wobei das in den letzten Jahren besser geworden ist), das in dieser Abteilung eine Art historisches Seminar zur Geschichte der Emigration aus dem Deutschen Reich nach 1933 geworden ist. Sehr schnell werden Anträge beschieden, wenn auch ein Antragsteller der vom BVA euphemistisch bezeichneten sog. „Erlebnisgeneration“ (d.h. eine vor 1945 geborene Person) einen Antrag mitstellt; dann profitiert davon in der Regel die ganze Familie.

Im internationalen Vergleich sind die deutschen Regeln der Wiedergutmachung durch die Erteilung der Staatsbürgerschaft einzigartig und auch die liberalsten: Österreich ist seit September 2020 sehr großzügig gegenüber jüdischen Emigranten, Spanien und Portugal erteilen ihre Staatsbürgerschaft den Nachfahren solcher jüdischer Emigranten, die beide Länder zwischen 1492 (Edikt von Alhambra) und 1580 verlassen mussten, meist Richtung Osmanisches Reich. Andere Länder sind sehr bürokratisch (Polen, Ungarn, Rumänien) und differenzieren nicht nach dem Grund der Emigration, und andere sind total ablehnend, z.B. die Tschechische Republik, die immer noch denkt, dass es angemessen sei, Holocaustopfer und deren Nachkommen im 21. Jahrhundert danach zu differenzieren, ob diese oder deren Vorfahren in Volkszählungen 1930 oder 1939 angegeben hatten, Deutsch als Muttersprache zu sprechen. Insofern hat die Tschechische Republik die rote Laterne von Deutschland in Sachen historischer Ignoranz gegenüber der Geschichte übernommen (cf. die Zusammenfassung im gleichen Artikel: „… neue Hindernisse für Emigranten aus der ehemaligen Tschechoslowakei“). Das kann auf Dauer in einem EU-Land so nicht bleiben, der Widerstand in der Tschechischen Republik ist aber systemisch und wird gespeist aus einem tiefen historischen Minderwertigkeitskomplex und irrationalen Ängsten gegenüber den deutsch- und ungarischsprachigen Nachbarländern.

Quelle:
Art. 4 des Vierten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigengesetzes vom 12. August 2021 – BGBl. I S. 3538
Gesetzlicher Anspruch auf Einbürgerung für NS-Verfolgte und ihre Nachkommen von Bundestag und Bundesrat beschlossen – PRESSEMITTEILUNG 25.06.2021 https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2021/06/staatsangehoerigkeit.html
Pressemitteilung im Namen der Article 116 Exclusions Gruppe anlässlich der Abstimmung im Bundestag am 25. Juni 2021.
https://www.article116exclusionsgroup.org/presse0621
Press release on behalf of the Article116 Exclusions Group upon the vote in the Bundestag on 25 June 2021.

English:
https://www.article116exclusionsgroup.org/pr0621
Zum gleichen Thema: https://arolsen-archives.org/news/staatsbuergerschaft-fuer-nachfahren-von-ns-verfolgten/ 

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