Die von Sir Nicholas Winton geretteten Kinder haben keinen Anspruch auf einen tschechischen oder slowakischen Pass – auf einen deutschen Pass hingegen schon!

Der Brexit hat überraschende Folgen in Bereichen gezeitigt, an die bisher niemand gedacht hatte. So haben offenbar die tschechoslowakischen jüdischen Kinder, die vor Ende August 1939 dank der von Sir Nicholas Winton organisierten Züge aus Prag nach Großbritannien entkommen konnten, generell keinen Rechtsanspruch auf einen tschechischen oder slowakischen Pass – auf einen deutschen Pass aber schon.


Nach dem Brexit zeigt sich, dass dieser erstaunliche Folgen in Fragen hat, an die niemand dachte. Denn viele Engländer suchen nun nach Möglichkeiten, einen EU-Pass zu erlangen, z.B. einen tschechischen oder slowakischen. Und nun zeigt sich, dass tschechoslowakische jüdische Kinder, die bis Ende August 1939 in den Zügen, die Sir Nicholas Winton organisierte, Prag in Richtung Großbritannien verlassen konnten, in der Regel keinen Anspruch auf einen tschechischen oder slowakischen Pass haben. Und auch nicht deren Nachkommen. Aber seit Ende August 2021 haben alle einen Anspruch auf einen deutschen Pass! Kafka meets Brexit!

Die Geschichte von Sir Nicholas Winton und den 669 von ihm im Jahre 1939 geretteten Kindern ist bekannt: Auf dem Prager Hauptbahnhof gibt es dazu gleich zwei Denkmäler, mit denen sich die tschechische Hauptstadt schmückt. Der Investmentbanker Nicholas Winton, damals 29 (er starb im Jahre 2015 im Alter von 106 Jahren) – über ihn gibt es etliche Dokumentarfilme – hatte mit einigen Mitstreitern innerhalb von nur ein paar Monaten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fast 700 tschechoslowakische jüdische Kinder aus der damaligen „Rest-Tschechei“, der Slowakei und Österreich, ab Mitte März 1939 aus dem Protektorat, dem Sudetenland und der Slowakei, gerettet. Es gibt eine Liste dieser Kinder, die ähnlich wie Schindler´s Liste aussieht, die im Internet zugänglich ist: https://www.nicholaswinton.com/wintons-children. Ein beeindruckendes Dokument der Pragmatik von Nicholas Winton und der Menschlichkeit damals, aber auch ein Mahnmal für heute. Gerade die Tschechische Republik behandelt die Flüchtlinge von heute sehr schäbig.

Die Geschichte der Rettung der Winton-Kinder war trotzdem tragisch, denn die meisten Kinder verloren ihre Eltern, die in Mitteleuropa zurückblieben und in den KZs ermordet wurden. Trotzdem wollen viele Kinder und deren Nachkommen nun an ihre Wurzeln anknüpfen, z.B. durch den Antrag auf einen tschechischen oder slowakischen Pass, denn die meisten kamen ja aus der Tschechoslowakei. Der Grund dafür ist seit 2016 auch ein praktischer: der Verlust der EU-Staatsbürgerschaft nach dem Brexit.

Die Winton-Kinder aus dem ehemaligen Österreich, das ja schon seit Mitte März 1938 an das Deutsche Reich „angeschlossen“ war, und deren Nachkommen dürften seit September 2019 mit ihren Anträgen auf einen österreichischen Pass gute Erfolgsaussichten haben. Über die Slowakei sind keine Fälle bekannt. Bei den tschechoslowakischen Kindern (und deren Kindern und Enkeln, nicht den Urenkeln) aus der heutigen Tschechischen Republik ist trotz einer Liberalisierung im tschechischen Staatsbürgerschaftsgesetz im Jahre 2019 immer noch entscheidend, ob die Kinder tschechische Muttersprachler waren, d.h. ob deren Familien in den tschechoslowakischen Volkszählungen 1920, 1930 und 1939 angegeben hatten, tschechische Muttersprachler zu sein. Aber das war gerade bei den jüdischen Familien oft nicht der Fall: deren Muttersprache war meist deutsch, auch wenn sie sich eher jüdisch oder tschechoslowakisch fühlten, egal ob sie in Prag, Brünn oder Aussig lebten. Jüdisch war damals keine Kategorie in den Volkszählungen, es sei denn bei einer Muttersprache Jiddisch. Die deutsche Muttersprache war schon 1945 fatal: denn deutsche und ungarische Muttersprachler, auch Kinder, haben wegen des Beneš-Dekrets Nr. 33/1945 Slg. vom 2. August 1945 als deutsche und ungarische Volkszugehörige keine Chance, die tschechische Staatsbürgerschaft zu erlangen, weil sie diese – nach heutiger tschechischer Verwaltungspraxis – rückwirkend zum 10.10.1938 bzw. 16.3.1939 verloren hatten, also meist, bevor sie überhaupt in die Züge nach England eingestiegen waren. Die jüdischen tschechoslowakischen kleinen Mitbürger waren damals wie heute quasi eine Art Kollateralschaden der großen Vertreibungspolitik des damaligen tschechoslowakischen Präsidenten Dr. Edvard Beneš und seines Exekutors dieser Politik, des kommunistischen Innenministers Václav Nosek. Es spielt heute keine Rolle, dass die jüdischen Kinder im August 1945 längst ausgereist waren, und zwar ziemlich unfreiwillig schon 1939, weil aus Verzweiflung von ihren Eltern alleine als Minderjährige in Züge nach England gesetzt, und dass sie mit den Ereignissen seit Ende 1938 nichts zu tun hatten. Um so schlimmer: die Ausbürgerung wird sogar rückwirkend angewandt, und zwar zum Zeitpunkt der Abtretung des Sudetenlands bzw. der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren. Und da die meisten Kinder bis zum 10.2.1946 keinen Antrag nach § 2 Abs. 2 des Beneš-Dekrets auf Nichtanwendung dieser Ausbürgerung gestellt hatten, ist ihr Anspruch auf die tschechische Staatsbürgerschaft verjährt. Aber wie hätten sie diesen Antrag auch stellen sollen? Die meisten waren Ende Februar 1946 noch minderjährig, außerdem waren sie in England, und ihre Eltern waren meist ermordet. Das ficht die tschechische Verwaltung im Jahre 2022 aber nicht an: Fristversäumnis ist Rechtsverlust, denn die Frist ist abgelaufen. Also: Kafka meets Brexit.

Allerdings haben seit August 2019 diese Kinder und alle ihre Nachkommen, also auch Urenkel, einen Anspruch auf einen deutschen Pass: nach § 15 Nr. 2 StAG waren sie selbst oder ihre Vorfahren aus rassischen Gründen, eben weil sie Juden waren, von der Sammeleinbürgerung zu „deutschen Reichsbürgern“ (so hieß das damals wirklich) im Sudetenland, im Protektorat und in der Slowakei ausgeschlossen, und genau das begründet nun den Anspruch auf den deutschen Pass, ausgerechnet die Staatsbürgerschaft des Landes, das das größte Leid über diese Familien gebracht hat, die dazu nie deutsche Staatsbürger waren. Absurd – oder eine gute Fügung? Nein, die deutsche Staatsbürgerschaft als Wiedergutmachung, das ist der Gedanke des deutschen StAG. Den nach dem Brexit unglücklichen Briten kann es nur recht sein, wie ein Betroffener das Prinzip „Hauptsache ein EU-Pass“ zusammenfasste: „Best would be a Czech passport, a German would do it, too, and even a Slovak one is fine.“

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