Zur überzogen formalrechtlichen Auslegung von Vorverträgen

In einer Entscheidung vom August 2022 wirft das Verfassungsgericht den ordentlichen Gerichten überzogenen Formalismus vor und weist auf unverzichtbare Aspekte hin, die bei der Interpretation des tatsächlichen Inhalts von Rechtsgeschäften zu berücksichtigen sind.

In seiner Entscheidung III.ÚS 129/21 vom 2.8.2022 befasste sich das Verfassungsgericht mit einer Verfassungsbeschwerde betreffend die Fehlentscheidung eines Bezirksgerichts als Berufungsinstanz hinsichtlich der Beurteilung von sich aus einem Vorvertrag (dem „Vertrag“) ergebenden Pflichten. Der Vertrag war zwischen dem Beschwerdeführer und der Stadt Dvůr Králové nad Labem (der „Gemeinde“) im Jahre 2007 geschlossen worden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem noch das „alte“ BGB-cz (Ges. Nr. 40/1964 Slg.) galt. Gegenstand des Vorvertrags sollte die Übereignung von Immobilien (Grundstücken) im Eigentum des Beschwerdeführers zwecks Errichtung einer Kläranlage sein. Diese Grundstücke sollten im künftigen Kaufvertrag erst nach Abwicklung der Eigentumsverhältnisse an zu einem Wohngebäude gehörenden Grundstücken genauer bestimmt werden, und zwar auf der Grundlage des dem Vertrag beiliegenden Vermessungsplans.

Obwohl der Vertrag von der Gemeinde aufgesetzt worden war, und obwohl die Gemeinde im Einklang mit dessen Wortlaut den Beschwerdeführer zum Abschluss des Kaufvertrags aufgefordert hatte, kam es lediglich nicht zum Abschluss des Kaufvertrags. Der Beschwerdeführer strengte daraufhin im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen des Vertrags die Zahlung einer Vertragsstrafe i.H.v. 2.000.000 CZK mit Nebenforderungen an.

Das Amtsgericht erkannte den Anspruch des Beschwerdeführers auf Zahlung dieser Strafe an, doch das Bezirksgericht machte sich die Argumentation der Gemeinde zu eignen, welche die Nichtigkeit des Vertrags wg. unzureichender Bestimmung der zu übertragenden Grundstücke einwandte. Der Beschwerdeführer legte Revision beim Obersten Gerichtshof ein, die jedoch mit der Begründung abgewiesen wurde, der Beschwerdeführer erfülle nicht die gesetzlichen Kriterien für die Zulässigkeit der Revisionsklage. In seiner darauffolgenden Verfassungsbeschwerde strengte der Beschwerdeführer die Aufhebung sämtlicher vorausgegangenen Gerichtsentscheidungen an, die nach seiner Auffassung seine von der Verfassung geschützten Rechte verletzten, und zwar insbesondere die gerichtliche Rechtsschutzgarantie gemäß Art. 36 der Urkunde der Grundrechte und -freiheiten.

Das Verfassungsgericht fand die Beschwerde begründet und bezeichnete das Vorgehen sowohl des Bezirksgerichts als auch des Obersten Gerichtshof als überzogen formaljuristisch. In diesem Zusammenhang rief es eines der Grundprinzipien für die Auslegung von Verträgen in Erinnerung, wonach Rechtsgeschäfte stets bevorzugt als rechtsgültig denn als nichtig zu betrachten sind. Zwar war dieser Grundsatz so im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1964 nicht ausdrücklich enthalten, wurde aber von der Rechtsprechung so hergeleitet.

Des Weiteren wies das Verfassungsgericht darauf hin, dass bei der Auslegung des Vertragsinhalts zwischen den an der Vertragsbeziehung Beteiligten unterschieden werden muss, was deren jeweils unterschiedliche Fähigkeit anbelangt, die korrekte juristische Terminologie zu verwenden und und eine systematische und kohärente Vertragsstruktur zu erzielen. Das Verfassungsgericht befand, der Gegenstand des Vertrags sei den Parteien zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses hinreichend klar gewesen und sei angesichts des beigefügten Vermessungsplans unzweifelhaft bestimmt bzw. bestimmbar gewesen, so dass der Vertrag nicht als nichtig gewertet werden dürfe.

Nicht zuletzt führte das Verfassungsgericht aus, die Bestimmungen des Art. 2 Abs. 3 der Urkunde der Grundrechte und -freiheiten und des Art. 2 Abs. 4 der Verfassung garantierten das Recht des Einzelnen darauf, dass die öffentliche Gewalt autonome Äußerungen seiner Persönlichkeit respektiert, einschließlich freier Willensbekundungen, die sich in Rechtsgeschäften niederschlagen. Soweit ein Organ der öffentlichen Gewalt solchen autonomen Willensbekundungen aus rein formalistischen Gründen die Wirkung abspricht, kommt es zu einer Verletzung dieser Grundrechte und wird in die Vertragsfreiheit des Bürgers eingegriffen. Wo die fragliche Gültigkeit und Auslegung von Vertragsinhalten beurteilt wird, müssen der tatsächliche Wille der Vertragsparteien und deren anschließendes Verhalten berücksichtigt werden, sowie auch der eigentliche Sinn und Zweck von Vorverträgen, an die nicht dieselben formalen Anforderungen gestellt werden dürfen wie an den Kaufvertrag.

Abschließend widmete sich das Verfassungsgericht noch dem Versagen des Obersten Gerichtshofs. Auch dieser sei an die Revision des Beschwerdeführers rein formalistisch herangetreten und habe diese als unzulässig abgewiesen, weil die gesetzlichen Revisionsgründe nicht bestanden hätten. Der Beschwerdeführer habe nämlich nicht ausgeführt, welches konkrete Zulässigkeitskriterium er für erfüllt betrachtete, wobei nach Auffassung des OGH keine der in der Revisionsklage aufgeführten Beschwerden für sich genommen geeignet gewesen sei, die Zulässigkeit der Revision zu begründen. Das Verfassungsgericht gelangte demgegenüber zur Auffassung, auch hier dürfe die Pflicht, die vorgegebenen Revisionsgründe zu respektieren, nicht zu überzogenem Formalismus führen. Soweit der Oberste Gerichtshof der Auffassung sei, die Revisionsfrage hätte breiter oder genauer gefasst werden müssen, hindere ihn nichts daran, diese Präzisierung selbst vorzunehmen.

Quelle:
Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 2.8.2022 (III.ÚS 129/21)

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