Der Krieg in der Ukraine wütet bereits ein halbes Jahr – aber die EU-Mitgliedstaaten beginnen bereits, die großzügigen Regeln der Entscheidung (EU) Nr. 382/2022 zurückzunehmen und an anderen Stellen die Regeln zu verschärfen, auch die Tschechische Republik.
Verschärfungen enthält das Gesetz Nr. 175/2022 Slg., das die Lex Ukraine – Gesetz Nr. 65/2022 Slg. geändert hat und das bereits Ende Juni 2022 in Kraft getreten ist, insbesondere für Staatsbürger der Russischen Föderation und der Republik Belarus, denn diese werden von der Erteilung von touristischen Visa ausgeschlossen. Insofern wirken sich hier die Sanktionen auf jeden Staatsbürger dieser zwei kriegführenden Länder aus, wobei die Teilnahme von Belarus am Krieg in der Ukraine bisher eher indirekt ist. Aber wenn ein Land einer Armee, die einen Angriffskrieg vorbereitet oder führt, sein Territorium zur Verfügung stellt, dann ist es Kriegspartei. Von diesem Ausschluss der Beantragung von Visa- und Aufenthaltsgenehmigungen gibt es aber viele Ausnahmen, unter anderem zum Zwecke der Familienzusammenführung bei solchen Staatsbürgern der Russischen Föderation und der Republik Belarus, die Familienangehörige eines EU-Staatsbürgers sind, oder aus humanitären Gründen. Dies kann eine Verordnung der tschechischen Regierung so bestimmen, was auch geschehen ist. Die tschechischen Behörden fällen aber über solche Anträge keine Entscheidungen, weil die Anträge als „nicht annehmbar“ zurückgewiesen werden, oft auch ganz ohne Kommentar.
Bei der ebenfalls fragwürdigen „Nichtannahme“ verbleibt es auch im Falle der Anträge auf die Gewährung eines zeitweiligen Schutzes nach § 5 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. 65/2022 für Ukrainer und eine Reihe von Drittstaatsbürgern: zwar soll nach § 5 Abs. 2 Ukrainern und Drittstaatsausländern „der Grund der Nichtannahme“ mitgeteilt werden, aber das passiert nach unserer Erfahrung nicht; vielmehr werden Anträge kommentarlos zurückgegeben. Das ist auch ohne Sanktion möglich, da sogar der Rechtsweg bei solchen Entscheidungen § 5 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 65/2022 ausgeschlossen ist. Wie bereits erörtert (cf. Artikel „Die Regeln für ukrainische Flüchtlinge in EU-Ländern“ – https://bnt.eu/de/die-regeln-fur-ukrainische-fluchtlinge-in-eu-landern/“, und „Ausgewählte Fragen des Instituts des zeitweiligen Schutzes im EU-Ratsbeschluss 382/2022 im tschechischen Recht, https://bnt.eu/de/ausgewahlte-fragen-der-instituts-des-zeitweiligen-schutzes-im-eu-ratsbeschluss-382/2022-im-tschechischen-recht/), widerspricht dieser Ausschluss des Rechtsweges dem tschechischen Gesetz über den temporären Schutz (§ 17 des Gesetzes Nr. 221/2003 Sb.) und außerdem Art. 29 der Richtlinie 2001/55/EG, die den temporären Schutz auf europäischer Ebene schon im Jahre 2001 eingeführt hatte. Ganz zu schweigen ist dieser pauschale Ausschluss in einem Rechtsstaat unmöglich, d.h. verfassungswidrig (es handelt sich um einen klaren Verstoß gegen Art. 36 der Urkunde über Grundrechte und Grundfreiheiten, Gesetz 2/1993 Slg.), und somit ist hier der tschechische Gesetzgeber in den Rechtszustand vor Einführung des Rechtsstaats zurückgefallen. Auch die „Nichtannahme“ von Anträgen erinnert eher an Verwaltungspraktiken in Franz Kafkas Romanen „Der Process“ oder „Das Schloss“ als an ein rechtsstaatliches Verfahren. In einer Entscheidung vom 20. Juli 2022 (AZ: 14 A 63/2022) billigt aber das Stadtgericht in Prag die derzeitige Praxis und sieht hier keine Widersprüche. Gegen diese Entscheidung haben wir Revision beim Obersten Verwaltungsgericht in Brünn (NSS) eingelegt.
Denn bei den Anträgen nach § 5 gibt es durchaus problematische Fallgruppen: Drittstaatsbürger, d.h. nicht ukrainische Staatsbürger, bei denen fraglich ist, ob sie unter die EU-Entscheidung fallen; Ukrainer, die schon kurz vor dem 24.2.2022 die Ukraine verlassen hatten, denn diese sind nicht antragsberechtigt im Sinne von § 5 (z.B. ist hier die ukrainische Familie aus Kiew zu nennen, die zurzeit des russischen Überfalls auf die Ukraine eine Safari in Tansania machte und wegen des Krieges nicht in die Ukraine zurückkonnte); aber auch bei Familienangehörigen gibt es zweifelhafte Anträge, die nicht einfach „nicht annehmbar“ sein dürfen.
Eine weitere Gruppe, die schwierige juristische Fragen aufwirft, sind solche Ukrainer, die schon in anderen EU-Ländern einen temporären Schutz beantragt haben, denn deren Anträge sind auch „nicht annehmbar“. Was ist aber, wenn diesen Antragstellern der temporäre Status in dem anderen EU-Land gar nicht gegeben wurde, oder dieser schon erloschen ist? Oder dieser Antrag in Dänemark gestellt wurde, wo die EU-Entscheidung samt der EU-Richtlinie gar nicht gilt? Wir haben Fälle von Ukrainern, die in Spanien und Lettland einen Antrag gestellt bzw. den Schutz dort schon wieder aufgegeben haben, deren Anträge aber in der Tschechischen Republik ohne Kommentar zurückgewiesen wurden. Hier haben wir trotz des Ausschlusses des Rechtsweges Klage beim Stadtgericht in Prag gegen diese Ablehnung und auf Erlasse einer einstweiligen Anordnung eingereicht, aber ohne Erfolg.
Fälle von ukrainischen Flüchtlingen, die den EU-Mitgliedstaat wechseln wollen, bereiten die größten Probleme. Familienzusammenführungen sind zwar nach Art. 15 der Richtlinie möglich, diese tauchen aber in der Lex Ukraine nicht auf, nur in §§ 51f. des tschechischen Gesetzes über den temporären Schutz (Gesetz Nr. 221/2003 Slg.). Diese Vorschriften werden aber von den tschechischen Behörden gar nicht angewandt. Auch von einer Überführung von Flüchtlingen nach Art. 26 der Richtlinie ist in der tschechischen Praxis nichts bekannt, dabei gibt es dazu sogar in Anhang I der Richtlinie und in Anlage Nr. 4 des Gesetzes 221/2003 ein Formular (Muster eines Laissez-passer nach Art. 26 der Richtlinie), das von den beiden beteiligten Staaten ausgefüllt werden soll.
Leider gibt es nach der Novelle der Lex Ukraine sogar mehr Fragen als Antworten. Ohnehin muss bis März 2023 auf europäischer Ebene entschieden werden, ob der Mechanismus für die Flüchtlinge vor dem Krieg gegen die Ukraine verlängert wird oder nicht.
Der brutale Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen ihr Nachbarland dauert schon fast ein halbes Jahr an, und es gibt wenig Anzeichen, dass dieser blutige Krieg bald endet. Es wäre zu wünschen, dass die EU ihre eindeutige und einheitliche Haltung verlängert, ganz abgesehen davon, dass niemand ukrainische Flüchtlinge nach Mariupol, Sewjerodonetzk oder Lyssytschansk, um nur drei Orte der größten Kriegsverbrechen der russischen Soldateska zu nennen, oder in die von der russischen Armee besetzten ukrainischen Gebiete zurückschicken wird.