Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 20. Mai 2020 dem Bundesverwaltungsamt (BVA), aber auch den deutschen Verwaltungsgerichten eine schallende Ohrfeige verpasst: deren Praxis widerspricht dem verfassungsrechtlichen Verbot der Ungleichbehandlung von Mann und Frau und der Benachteiligung von nichtehelichen Kindern. Die Folgen sind weitreichend. Der Gesetzgeber muss dieses Urteil aufgreifen. Das BVA hat zugesichert, dieses Urteil bei neuen Fällen zu beachten und sogar auf Antrag alte, bestands- oder rechtskräftig entschiedene Fällen neu zu bescheiden.
Im letzten Jahr hatte das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat mit zwei Erlassen versucht, die Praxis der Wiedereinbürgerung nach Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG neu zu regeln (unser Artikel). Dabei geht es um den Anspruch auf Wiedereinbürgerung von Emigranten, denen die deutsche Staatsbürgerschaft zwischen 1933 und 1945 aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen entzogen wurde. Berechtigt dazu sind auch deren Abkömmlinge, die in Art 116 Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich genannt sind. Antragsteller sind meist Kinder oder Enkel, denn mittlerweile leben fast keine Mitglieder der sog. Erlebnisgeneration mehr. Die Praxis des Bundesverwaltungsamt und der Verwaltungsgerichte, bis hin zum Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), war seit jeher gegenüber allen Antragstellern sehr restriktiv.
In einem grundlegenden Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 20. Mai 2020 (AZ: 2 BvR 2628/18) einer 1967 geborenen Amerikanerin recht gegeben, durch die ablehnenden Bescheide des BVA über Wiedereinbürgerung und die Gerichtsurteile der Verwaltungsgerichte, die diese Bescheide billigten, in ihren Grundrechten gemäß Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 5 GG, d.h. dem Verbot der Ungleichbehandlung von Mann und Frau und dem Verbot der Benachteiligung von nichtehelichen Kindern, verletzt zu sein. Dabei hat das BVerfG die jahrzehntelange Praxis von BVA und Verwaltungsgerichten für verfassungswidrig erklärt – ein unerhörter Vorgang. Dieser kann große Folgen für tausende von laufenden Verfahren und abertausende von zukünftigen Verfahren haben – besonders seit Brexit haben viele Nachkommen im UK und Antragsteller aus den USA und anderen Ländern, Anträge nach Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG gestellt. Die Betroffenen haben sich in Gruppen organisiert, z.B. der „Article 116 exclusion group“ (Webseite: https://www.article116exclusionsgroup.org/).
Konkret war dem Vater der Klägerin, einem in die USA emigrierten jüdischen Flüchtling, 1938 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden – seine Ausbürgerung war sogar im damaligen „Deutschen Reichsanzeiger“ (nicht „Deutschen Rechtsanzeiger“, wie das BVerfG in seinem Beschluss gleich unter Punkt I.1 des Beschlusses im Sachverhalt… schreibt) veröffentlicht worden. Er nahm zwar seine uneheliche Tochter nach deren Geburt als ehelich an, ihr Antrag nach Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG wurde aber trotzdem abgelehnt: bis 1993 erwarben uneheliche Kinder nicht die Staatsbürgerschaft des Vaters, sondern nur die der Mutter. Dagegen klagte die Klägerin vor den deutschen Gerichten fünf Jahre lang erfolglos. Denn die Praxis des Bundesverwaltungsamts und der Verwaltungsgerichte, bis hin zum Bundesverwaltungsgericht, war die einer hypothetischen Prüfung von Anträgen: hätte der Kläger jeweils nach dem Recht, das zum Zeitpunkt der Geburt galt, die deutsche Staatsbürgerschaft erworben? Dies war Praxis der deutschen Behörden seit den 50er Jahren, allerdings nur bei Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG, nicht Art. 116 Abs. 1 GG (Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit). Im Ergebnis wurden alle Anträge abgelehnt, wenn ein Glied der Kette zum Zeitpunkt des Rechts, das in Deutschland bei der Geburt galt, den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft nicht ermöglichte. Deswegen erhielten Kinder von deutschen ausgebürgerten Vätern, die bis zum 1.7.1993 geboren waren, keine deutschen Pässe. Auch Adoptionsfälle wurden abgelehnt. Das BVerfG hat jetzt klargestellt, dass diese verfassungswidrigen, gegen Art. 3 Abs. 2 GG und Art. 6 Abs. 5 GG verstoßenden Regeln, nicht immer noch über den Umweg der hypothetischen Prüfung angewandt werden dürften. Diese Fallgruppen müssen ab jetzt anders entschieden werden.
Offen bleiben aber die Adoptionsfälle, und auch die Fälle der auf die Ausbürgerung folgende Einbürgerung in den Exilländern und des damit folgenden automatischen Verlusts der deutschen Staatsbürgerschaft nach § 25 Staatsangehörigkeitsgesetz des deutschen Reichs (RuStAG). Über diese Fälle hat das BVerfG nicht entschieden. Offen bleiben nach dem Urteil des BVerfG auch die Österreich-, Sudetenland-, Memel- und Danzigfälle: nach der Besetzung dieser Gebiete 1938/39 waren die Deutschen in Österreich, dem Sudetenland, in Memel und in Danzig en bloc eingebürgert worden, aber mit der Ausnahme aller Juden. Die Anträge dieser Emigranten und deren Nachkommen gemäß Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG werden seit der Grundsatzentscheidung des BVerwG im Jahre 2001 (AZ: 1 C 18.99) mit der Begründung abgelehnt, ihre Vorfahren seien nie deutsche Staatsbürger gewesen. Das ist zwar richtig, aber aus dem gleichen Grunde, aus dem die Emigranten ausgebürgert worden waren, sind diese Personen eben nicht eingebürgert worden, nämlich weil sie Juden waren. Im Deutschen Reich selbst galt ein Einbürgerungsverbot für Juden sogar seit 1933, aber schon in der Weimarer Republik wurden Juden nur sehr selten eingebürgert.
Hier muss der Gesetzgeber tätig werden – der Bundestag hat allerdings einen entsprechenden Gesetzesentwurf im Bundestag am 30. Januar 2020 (dem 87. Jahrestag der Machtergreifung Hitler) per Hammelsprung mit den Stimmen der Großen Koalition abgelehnt. Das BVA hat jetzt aber mitgeteilt, dass es seine Praxis entsprechend diesem Urteil ändern will. Es ferner mitgeteilt, dass es – auf der Grundlage eines Antrages – sogar offene Fälle, die schon bestands- oder rechtskräftig entschieden sind, neu entscheiden will, und das entsprechend den von dem BVerfG entwickelten Prinzipien (cf. die Mitteilung des BVA – leider nur auf Deutsch und Englisch).
Im September 2019 hatten allerdings schon die Gesetzgeber in Österreich und in der Tschechischen Republik ihren Emigranten das Recht gegeben, die Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen. In Österreich gilt das ab September 2020, in der Tschechischen Republik schon jetzt. Insofern ist zu Zeiten von Brexit ein österreichischer oder tschechischer Pass u.U. die Alternative zu einem deutschen Pass, wenn sich in Deutschland für die Österreich- und Sudetenlandfälle weiterhin nichts tut. Bei den meisten anderen Fällen muss sich die Praxis oder das Gesetz, das Deutschland diesen Emigranten schuldig, ändern.
Quelle:
Art. 116 Abs. 2 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1949)
(deutsches) Staatsangehörigkeitsgesetz
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Mai 2020 (AZ: 2 BvR 2628/18)