Einbürgerung für Nachkommen von NS-Verfolgten gemäß Art. 116 Abs. 2 GG

Neue Erlasse des Bundesministeriums des Inneren (BMI) zur Wiedergutmachung.

Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) will mit zwei Erlassen, die am 29.08.2019 in Kraft getreten sind, eine jahrzehntealte offene Gesetzes- und Anwendungslücke schließen: nach Art. 116 Abs. 2 des Grundgesetzes können frühere deutsche Staatsangehörige und alle deren Abkömmlinge, denen die deutsche Staatsangehörigkeit „aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist“, einen Antrag auf Einbürgerung stellen. Dieser Anspruch wurde seit den siebziger Jahren nur noch sporadisch geltendgemacht, von 2000 bis 2017 gab es jährlich immerhin noch zwischen 1000 und 5000 Einbürgerungen; die Verwaltungspraxis war von Anfang an, wohl auch wegen der Durchseuchung des Bundesinnenministeriums mit alten NS-Bürokraten bis zum Ende der 60er Jahre, sehr restriktiv (mittlerweile ist das Bundesverwaltungsamt in Köln für die Anträge nach Art. 116 Abs. 2 GG zuständig): wenn NS-Flüchtlinge und deren Abkömmlinge z.B. die Nationalität ihres Gastlandes angenommen hatten, wurde angenommen, dass sie damit automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft verloren hatten und so ein „Entzug“ i.S.d. Art. 116 Abs. 2 GG nicht vorlag. In vielen Fällen, z.B. bei nichtehelichen Kindern, bei der Heirat der Mutter mit einem Ausländer etc., wurde seit jeher entschieden, dass ein Anspruch nach Art. 116 Abs. 2 GG nicht bestehe, weil in diesen Fällen nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 (RuStAG) auch bei Restitution der Staatsbürgerschaft z.B. an die Großmutter keine Staatsbürgerschaft den Abkömmlingen vermittelt worden wäre. Bürokratische Hürden wurden allen Antragstellern, die z.B. ihre Angehörigen im Holocaust verloren hatten oder denen keine Unterlagen zur Verfügung standen. in den Weg gelegt. Insgesamt war die Praxis bis heute ein übler Schandfleck in der bundesdeutschen Verwaltungspraxis.

Mit dem Brexit explodierten die Antragszahlen, weil die zweite bzw. dritte Generation der Nachkommen z.B. geflüchteter Juden nach Großbritannien, aber auch in andere Länder wie Israel, Australien, USA etc., Deutschland unbefangener gegenüberstand und ein Interesse an einem deutschen Pass – als EU-Pass – sehr groß war. Während im Jahr 2015 lediglich 43 britische Juden, die von deutschen Flüchtlingen abstammten, sich um einen deutschen Pass bemühten, stieg die Zahl im Jahr 2017 auf 1667 – ein Anstieg von 4000 %. Das legitime Interesse der Antragsteller ist, auch nach einem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs weiterhin im Genuss der EU-Freiheiten – insbesondere der Niederlassungsfreiheit – zu verbleiben; außerdem sehen sie die Restitution der deutschen Staatsbürgerschaft als eine späte Wiedergutmachung für das Unrecht an, das ihre Großmütter und Großväter erlitten.

Besonders die Gruppe „Article 116 exclusion group“ (https://www.article116exclusionsgroup.org/), gegründet von Felix Couchman, einem englischen Anwalt, selbst ein Nachkomme von jüdischen Großeltern, die im Jahre 1940 mit ihrer minderjährigen Tochter aus Wiesbaden nach England flohen, trug zu dieser Aufmerksamkeit bei. Zusammen mit Nicholas Courtman, einem jungen Briten, PhD-Kandidaten für German Studies an der Universität Cambridge, der selbst einen Antrag auf Einbürgerung stellte, der nach der bisherigen Praxis vom Bundesverwaltungsamt abgelehnt wurde, kämpfen sie um Unterstützung durch Mitglieder des Bundestags und Beamte von Deutschen Ministerien. Das Thema wurde in der deutschen und internationalen Presse aufgegriffen (zuletzt der beeindruckende BBC-Artikel vom 18. November 2019: https://www.bbc.com/news/stories-50398227). Schließlich wurde der Druck so groß, dass das BMI reagieren musste. Bundesinnenminister Seehofer spricht von einer „historischen Verantwortung“ Deutschlands gegenüber den Nachfahren deutscher NS-Verfolgter. Die kommt etwas spät, aber besser spät als nie! Mit den beiden Erlassen soll eine schnelle und unmittelbar geltende Regelung geschaffen werden, um die Restitution der Staatsangehörigkeit zu ermöglichen.

Im Einzelnen wird mit dem Erlass die Einbürgerung den Personen eröffnet, die vor dem 01.04.1953 geborene nichteheliche Kinder zwangsausgebürgerter deutscher Mütter und ausländischer Väter sind. Auch Antragsteller, die vor dem 01.07.1953 als nichteheliche Kinder zwangsausgebürgerter deutscher Väter und ausländischer Mütter geboren sind, bei denen eine Anerkennung bzw. Feststellung der Vaterschaft vor Vollendung des 23. Lebensjahres wirksam erfolgte, sollen von den Änderungen profitieren; und auch Kinder, deren Elternteil im Zusammenhang mit NS-Verfolgungsmaßnahmen eine fremde Staatsangehörigkeit erworben und die deutsche verloren haben, sowie deren Abkömmlinge, sollen nun unter Art. 116 Abs. 2 GG fallen. Wichtig ist außerdem, dass bei diesen Personen die doppelte oder multiple Staatsangehörigkeit mit nicht-EU-Ländern, d.h. auch nach dem Brexit mit der des UK, hingenommen wird.

In Zukunft könnten die beiden Erlasse wohl vielen Antragstellern helfen, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten. Eine Gruppe profitiert hingegen nicht von den Erlassen: für im Inland lebende ausländische Nachfahren von NS-Verfolgten tritt keine Erleichterung ein. Auch hier ist eine gesetzliche Lösung dringend notwendig, denn eine solche Unterscheidung ist schon wegen des Wortlauts von Art. 116 Abs. 2 GG nicht gerechtfertigt. Abzuwarten bleibt, ob sich in der Zukunft die Bearbeitungszeit der Anträge nach Art. 116 Abs. 2 GG beim Bundesverwaltungsamt verkürzt. Derzeit dauert die Bearbeitung mindestens zwei Jahre, oft drei bis fünf Jahre, was wegen des Charakters der Wiedergutmachung und auch wegen des oft hohen Alters der Antragsteller, aber besonders in Zeiten des bevorstehenden Brexits absolut unakzeptabel ist.

 

 

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