Tschechien: Verfassungsgericht erneut zum Thema U-Haft: Hohe Straferwartung nicht hinreichend

Verfassungsgericht: Für sich genommen reicht eine hohe Strafandrohung nicht zur Bejahung der Fluchtgefahr als Haftgrund. Die Gerichte müssen weitere Umstände sorgfältig erwägen und die Rechte des Beschuldigten respektieren.

Die Untersuchungshaft als Entziehung der persönlichen Freiheit des Beschuldigten noch vor einer rechtskräftigen Verurteilung ist einer der schwerwiegendsten Eingriffe des Staates ins Leben des Einzelnen. Von daher ist ihre Verhängung an die Erfüllung strenger gesetzlicher Voraussetzungen und die sorgfältige Abwägung aller Umstände des Einzelfalls geknüpft. Das Verfassungsgericht als Hüter der Verfassungskonformität unterzieht die Haftbefehle der allgemeinen Gerichte wiederholt einer Überprüfung, um unverhältnismäßigen Eingriffen in die Grundrechte und Grundfreiheiten vorzubeugen. In seiner Entscheidung IV. ÚS 170/25 jüngeren Datums befasste sich das Verfassungsgericht wieder einmal mit der sog. Fluchtgefahr, um zu bestätigen, dass die bloße Drohung einer hohen Strafe für sich genommen nicht ausreicht, um die Anordnung der U-Haft zu rechtfertigen.

Die Fluchtgefahr als Haftgrund ist in § 67 Buchst. a) der Strafprozessordnung geregelt. Gemäß dieser Bestimmung darf ein Beschuldigter in Haft genommen werden, falls sein Handeln oder andere konkrete Umstände Anlass zur begründeten Sorge geben, er werde sich durch Flucht oder Verbergen dem Verfahren oder der Strafe entziehen. Das Gesetz listet beispielhaft eine Reihe von Umständen auf, die eine solche Sorge begründen können, so etwa die faktische Unmöglichkeit, die Personalien des Beschuldigten unverzüglich festzustellen, das Fehlen eines festen Wohnsitzes oder die bereits genannte hohe Straferwartung.

In der hier besprochenen Entscheidung konzentrierte sich das Verfassungsgericht auf die Auslegung des letztgenannten Umstands als Begründung der Fluchtgefahr. Das Gericht hob hervor, dass eine sprachliche und logische Auslegung zwar zum Schluss verleiten mag, eine hohe Strafandrohung gebe automatisch Grund zur Befürchtung, der Beschuldigte werde sich durch Flucht der Strafverfolgung entziehen, dass eine solche Auslegung aber unzulässig vereinfachend und nicht verfassungskonform ist. Diesbezüglich verwies das Verfassungsgericht auf seine frühere Rechtsprechung, wonach eine drohende hohe Strafe im Kontext sämtlicher anderen Umstände des Falls und insbesondere unter Berücksichtigung der vom Beschuldigten vorgebrachten Argumente zu beurteilen ist.

Im konkret geprüften Fall ging es um einen des Mordes Beschuldigten, ein Schwerverbrechen, dessentwegen eine Freiheitsstrafe von fünfzehn bis zwanzig Jahren bzw. eine Ausnahmestrafe bei besonderer Schwere der Schuld (lebenslang bzw. 20-30 Jahre Freiheitsentzug) droht. In dieser Straferwartung sahen die allgemeinen Gerichte hinreichend Grund für die fortgesetzte Inhaftierung des Beschuldigten gegeben. Das Verfassungsgericht wies diese Schlussfolgerung aber zurück. Es befand, die Gerichte hätten die Argumente des Beschuldigten nicht ausreichend berücksichtigt und mit Ausnahme der hohen Straferwartung als solcher keine belastbaren Gründe für die Haftfortsetzung vorgelegt.

In diesem Zusammenhang rief das Verfassungsgericht die sog. Doktrin der gewichtigeren Gründe in Erinnerung, welche besagt, dass mit fortschreitender Dauer der Inhaftierung die Gründe für eine Haftfortsetzung immer gewichtiger und überzeugender sein müssen. Ursprüngliche Argumente, die zu Beginn der Strafverfolgung legitim erscheinen mochten, müssen nach längerer Zeit nicht mehr hinreichen. Im vorliegenden Fall hatten die Gerichte die immer gleichen Argumente (Schwere der Tat, Strafandrohung) wiederholt, ohne je weitere relevante Umstände und Argumente des Beschuldigten zu berücksichtigen.

Des Weiteren betonte das Verfassungsgericht, die Untersuchungshaft sei ein extremes Mittel zur Gewährleistung des Zwecks des Strafverfahrens und dürfe nicht im Übermaß eingesetzt werden, zumal bei bereits lang andauernder Haft. Die am Strafverfahren beteiligten Stellen sind verpflichtet zu erwägen, ob der Haftzweck nicht auch durch sog. gelindere Mittel bzw. Haftalternativen erzielt werden kann, wie z.B. eine Gelobung seitens des Beschuldigten, die Überwachung durch einen Bewährungshelfer oder die Stellung einer Kaution. Im vorliegenden Fall hatten sich die allgemeinen Gerichte mit der Möglichkeit eines Haftersatzes durch derartige Mittel überhaupt nicht auseinandergesetzt.

Abschließend ist festzuhalten, dass mit der Entscheidung IV. ÚS 170/25 des Verfassungsgerichts die Bedingungen für die Verhängung der Untersuchungshaft bei Fluchtgefahr in wichtiger Weise präzisiert werden. Das Gericht hat klar vorgegeben, dass eine hohe Straferwartung nicht der einzige und automatische Grund für den Entzug der persönlichen Freiheit des Beschuldigten sein kann. Bei ihrer Entscheidung über die Untersuchungshaft müssen die Gerichte sorgfältig sämtliche relevanten Umstände sowie die Argumente des Beschuldigten abwägen und die Doktrin der gewichtigeren Gründe in Ansatz bringen, vor allem falls die Haft bereits längere Zeit andauert. Außerdem muss die Möglichkeit erwogen werden, die U-Haft durch gelindere Mittel zu ersetzen. Die Entscheidung stärkt damit den Schutz der persönlichen Freiheit und betont das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bei staatlichen Eingriffen in die grundlegenden Freiheiten des Einzelnen im Strafverfahren.

Quelle:
Entscheidung IV. ÚS 170/25 des Tschechischen Verfassungsgerichts
Strafprozessordnung (Ges. Nr. 141/1961 Slg.)

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