Nach fast drei Jahren intensiver Arbeit hat Hana Lisa, die im Juni 1939 nach England (in einem Winton-Zug) emigrierte, die deutsche und die tschechische Staatsangehörigkeit erhalten.
Nach fast drei Jahren intensiver Arbeit hat Hana Lisa, geb. 1935 in Teplitz-Schönau, Tschechoslowakei, jetzt Teplice in der Tschechischen Republik, die im Juni 1939 nach England (in einem Winton-Zug) emigrierte, die deutsche und die tschechische Staatsangehörigkeit erhalten. Ihre Familiengeschichte spiegelt das 20. Jahrhundert, besonders in Mitteleuropa, und die paradoxe rechtliche Situation:
Hans Lisa und Hugo Dasch wurden 1930 und 1935 in eine jüdische Arztfamilie in Teplitz-Schönau geboren. Ihr Vater stammte aus Nordböhmen, ihre Mutter aus Wien. Im Oktober 1938, nachdem Teplitz-Schönau als Teil des sog. Sudetenlands von Hitlerdeutschland nach dem Münchner Abkommen besetzt worden war, floh die Familie nach Prag, aber Mitte März 1939 hatte die deutsche Wehrmacht sie wieder eingeholt. Im Juni 1939 vertrauten die Eltern ihre Kinder der Organisation des jungen Nicolas Winton an, der beide Kinder, damals neun und vier Jahre alt, nach England brachte – wie 667 weitere Kinder, denen er bis Ende August 1939 das Leben rettete; der letzte Zug konnte wegen des Kriegsausbruchs am 1. September 1939 nicht mehr Prag verlassen. In England kamen die Kinder in einer Pflegefamilie unter. Die Eltern Dasch schafften aber selbst die Flucht Ende Juli 1939 aus Prag und kamen im August 1939 auch nach London – das schafften nur ganz wenige Eltern von Winton-Kindern. Erstaunlich war auch die Geistesgegenwart und juristische Gewandtheit von Hans Dasch, dem Vater: er legte Ende August 1939 gegen die Entscheidung der tschechischen Protektoratsbehörden, der Familie die Protektoratsbürgerschaft abzuerkennen, von London aus einen Einspruch ein, und das mit glasklarer Begründung: die Aberkennung der Staatsangehörigkeit würde alle Grundsätze des Rechtsstaats widersprechen. Dieser Einspruch wurde laut den Archiven bis 1943 nicht abgeholfen, die Protektoratsbehörden hatten mit dem Rechtsstaat nichts mehr zu tun. Gleich nach dem Krieg legte Hans Dasch, wieder über die Tschechoslowakische Botschaft, gegen die Ausbürgerung der ganzen Familie durch das Benesch-Dekret Nr. 33/1945 Slg. vom 2. August 1945 einen weiteren Einspruch nach § 2 dieses Dekrets mit der Begründung ein, das Dekret sei auf die Familie nicht anwendbar, denn sie sei ja selbst Opfer der Nationalsozialisten gewesen. Die tschechischen Kommunisten, die schon damals – eigentlich, so könnten Zyniker behaupten, bis heute – das tschechoslowakische Innenministerium übernommen hatten, lehnten diesen Antrag ab, mit der bemerkenswerten Begründung, eine Ausnahme solle nicht gewährt werden, weil die Familie zum einen deutschsprachig sei, zum anderen zur jüdischen Bourgeoisie gehört habe. So viel zur demokratischen Natur der Nachkriegstschechoslowakei bis Februar 1948.
Im Jahre 2018 begehrten die Kinder von Hana Lisa und Hugo die Ausstellung von tschechischen Pässen – gleich nach dem Brexit. Ihnen wurde, in der kafkaesken tschechischen Tradition der hiesigen Bürokratie, beschieden, sie hätten eine Frist bis Ende 2014 verpasst. Der Ärger war groß. Anfang 2022 stellten sie den Antrag noch mal, nun wurde ihnen beschieden, sie fielen unter das Benesch-Dekret. Der Ärger war noch größer, denn die Anwendung dieses Dekrets auf deutsch- und ungarischsprechende Holocaust-Überlebende war und ist historisch und juristisch kompletter Schwachsinn, aber ständige Praxis der tschechischen Behörden. Deswegen stellten die Kinder, und auch die noch lebende Hana Lisa – Hugo war inzwischen verstorben -, Mitte 2022 den Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft nach § 15 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 4 StAG wegen eines Ausschlusses von einer Sammeleinbürgerung im Protektorat/Sudetenland bzw. Wohnsitz im Deutschen Reich; für die Familie war dieser Schritt nicht naheliegend, war Deutschland eher die Quelle allen Unheils, als deren Lösung.
Nachdem die Familie die Praxis der tschechischen Behörden als komplett geschichtsvergessen kritisiert hatten und auch Archivdokumente vorgelegt hatte, die sie in den tschechischen Archiven gefunden hatte, ergab sich eine erstaunliche, fast Schwejk´sche Wendung in der tschechischen Position: die tschechischen Behörden, insbesondere die Botschaft in London, betrachteten die Ende Juli 1939 erfolgte Aberkennung der Protektoratsbürgerschaft aus dem Grunde, dass die Familie jüdisch war, zwar als wirksam – so viel zum damaligen Widerstandsgeist der tschechischen Protektorats-Behörden -, denn bis 1943 war die Entscheidung, der Familie die Protektoratsstaatsbürgerschaft zu entziehen, nicht aufgehoben worden. Allerdings war die Familie so Mitte 1939 staatenlos geworden, und dadurch ging das Benesch-Dekret vom August 1945 ins Leere, so die geschickte Argumentation der tschechischen Behörden: die Mitglieder der Familie hatten keine tschechoslowakische, und auch keine Protektoratsstaatsbürgerschaft mehr, die ihnen durch das Dekret weggenommen werden konnte, denn sie waren staatenlos. Deswegen ging auch die Sperre gegen das Benesch-Dekret, enthalten in § 31 Abs. 1 des aktuellen tschechischen Staatsbürgerschaftsgesetzes Nr. 186/2013 Slg. (so viel zum angeblichen Erlöschen des Benesch-Dekrets, der Lebenslüge der Tschechischen Republik) ins Leere. Im Endeffekt wurde der noch lebenden Hana Lisa eine Staatsbürgerschaftsurkunde vom Standesamt von Prag 1 (Matrika) ausgestellt, als eine Feststellung der tschechischen Staatsbürgerschaft; das galt theoretisch auch für all ihre Nachkommen.
Diese verzichteten aber darauf, weil sie in der Zwischenzeit die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten hatten – nach den neuen Regeln der Wiedergutmachungseinbürgerung nach § 15 Satz 1 Nr. 2 StAG.
Im Endeffekt ist es auch dem gesunden Menschenverstand und der klaren juristischen Sicht von Hans Dasch zu verdanken, dass sich die Familie aus den rechtlichen Wirrnissen von zwei Diktaturen herausgewunden hat – nach mehr als 85 Jahren. Leider wird dies aber nicht allen Familien der Winton-Kinder gelingen, weil nicht alle den Verlust der Protektoratsstaatsangehörigkeit nachweisen können und weil die notwendigen Änderungen im aktuellen tschechischen Recht noch nicht beschlossen sind (ein Gesetzesvorschlag in diese Richtung liegt im Unterhaus des tschechischen Parlaments, und zwar seit mehr als einem halben Jahr).
Im Ergebnis ist festzustellen: für die Anwendung von § 15 StAG stellt der Fall Dasch ein Präzedenzfall für die Winton-Kinder und für viele tschechoslowakische Staatsbürger jüdischer Herkunft mit deutscher Muttersprache dar, denen bis 1939/1940 die Emigration gelungen ist: zwar ist die Restitution der tschechischen Staatsangehörigkeit meistens unmöglich, und das wegen des immer noch geltenden Benesch-Dekrets und diskriminierender Vorschriften aus den Jahren 1947/49 und deren orthodoxer Anwendung durch das Tschechische Innenministerium, aber eine Einbürgerung nach deutschen Recht sollte in der Regel möglich sein. Das ist eine paradoxe Situation für viele Familien: die Lösung der lange zurückliegenden Ungerechtigkeit liegt nicht in der Tschechischen Republik, sondern in Deutschland. Der Fall Dasch ist hier eine kuriose Ausnahme, denn hier standen beide Wege offen.