Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Sache King versus Sash Window Workshop Ltd betreffend den Status eines Selbständigen und die Ansprüche auf Ersatz für genommenen Urlaub hat eine große Diskussion und die Aufmerksamkeit der Medien erregt.
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Wir leben im Zeitalter moderner Technologien; Beruf wie Privatleben sind immer mehr dadurch beeinflusst, dass wir die unterschiedlichsten „Apps“ nutzen. Zumeist überwiegen die positiven Seiten, aber manchmal kommt es zu Komplikationen für die bewährte und gelebte Praxis. Mit dem Aufschwung der sog. „Gig Economy“, den größeren Ansprüchen an Flexibilität im Erwerbsleben und nicht zuletzt dem Ruf nach (v.a. steuerlicher) Kostenoptimierung sind neue Formen von „Arbeitsverhältnissen“ entstanden, bei denen es sich um kurzfristige Anstellungen außerhalb eines regulären arbeitsrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses handelt, zumeist auf der Grundlage von Vereinbarungen über die Zusammenarbeit u. dergleichen (UBER, Airbnb). Wie stellt sich die Rechtsprechung zu diesen Formen der „Zusammenarbeit“?
Unlängst erregte in England eine Entscheidung der dortigen Gerichte in der Sache der für UBER tätigen Fahrer große Aufmerksamkeit. Die Gerichte hatten deren rechtliches Verhältnis gegenüber der Firma UBER zu beurteilen und gelangten zu dem Schluss, die Fahrer seien „Mitarbeiter“ – soll heißen: in einem Arbeitsverhältnis zu UBER – selbst wenn sie ihrer Tätigkeit für UBER auf der Grundlage der geschlossenen Verträge als selbständig Erwerbstätige nachgehen.
Im unmittelbaren Gefolge dieser Entscheidung kam es zu weiteren Diskussionen und einer lebhaften medialen Debatte, als der Europäische Gerichtshof in der Sache King gegen Sash Window Workshop Ltd (im Weiteren nur „Sash WW“) Recht sprach. Mr. King war für Sash WW von 1999 bis 2012 tätig gewesen. Über den gesamten Zeitraum der Zusammenarbeit hinweg hatte er die Rechtstellung einer selbständig erwerbstätigen Person inne gehabt. Diesen Status wollte er für sich wahren und lehnte von daher ein früher seitens Sash WW ausgehendes Angebot ab, er möge für die Gesellschaft künftig im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als Arbeitnehmer tätig werden. Als Selbständiger hatte Mr. King natürlich keinen Anspruch auf bezahlten Urlaub. Dennoch verklagte er Sash WW, nachdem er in Rente gegangen war, und zwar wg. Schadensersatz für den von ihm genommenen (aber unbezahlten) Urlaub und für den (von ihm nicht genommenen) Urlaub, auf den er im Laufe seiner Zusammenarbeit mit Sash WW Anspruch gehabt haben wollte.
Ehe der Fall vor dem Europäischen Gerichtshof landete, hatten die zuständigen britischen Gerichte bereits entschieden, dass Mr. King, obschon er mit Sash WW als selbständig erwerbstätige Person zusammengearbeitet hatte, in Wirklichkeit für die Zwecke der Richtlinie 2003/88/EG, über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitausgestaltung (die „Richtlinie“) „Arbeitgeber“ gewesen war. Vor diesem Hintergrund äußerte sich der Europäische Gerichtshof nicht weiter zu dieser Frage; seine Entscheidung zeigt klar, dass er sich die von den britischen Gerichten gezogenen Schlüsse bezüglich des tatsächlichen Charakters der Tätigkeit von Mr. King für Sash WW zu eigen machte.
An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass der Begriff „Arbeitnehmer“ auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts bisher einer eindeutigen Definition harrt, ungeachtet erster Bemühungen der Kommission, eine solche Definition einzuführen. Was uns die Entscheidungspraxis des EuGH aber jedenfalls verrät ist dies: das Verständnis des Begriffes „Arbeitnehmer“ im europäischen Recht ist völlig losgelöst von der Gesetzgebung der einzelnen Mitgliedsstaaten, so dass auch jemand, der innerhalb der Rechtsordnung eines konkreten Mitgliedsstaats selbständig erwerbstätig ist, für die Zwecke der Anwendung des Gemeinschaftsrechts „Arbeitnehmer“ sein kann. Diesbezüglich erklärt der Gerichtshof offen, dass der Begriff „Arbeitnehmer“ im Zweifelsfall eher weitreichend als restriktiv ausgelegt werden soll. Die Judikate des EuGH erlauben den Schluss, dass ein „Arbeitnehmer“ jemand ist, der für einen gewissen Zeitraum Dienstleistungen für einen anderen erbringt, unter dessen Leitung er steht und von dem er hierfür eine Vergütung bezieht. Aus Sicht des europäischen Rechts ist deshalb weniger die formelle vertragliche Beziehung der betreffenden Personen entscheidend als vielmehr die tatsächliche Unterordnung bzw. Überordnung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber (Abhängigkeitsverhältnis und Weisungsrecht).
Nachdem die englischen Gerichte beschlossen hatten, Mr. King sei für die Zwecke der Richtlinie als Arbeitnehmer anzusehen, legte das englische Berufungsgericht (Court of Appeals für Zivilsachen) dem Europäischen Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor, was die Anwendung von Artikel 7 der Richtlinie anbelangt (wonach die Mitgliedsstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat). Von diesen Fragen wollen wir hier nur die wichtigsten nennen:
- Wenn der Arbeitnehmer den ihm zustehenden Jahresurlaub in dem Bezugszeitraum, in dem ein Anspruch auszuüben ist, ganz oder teilweise nicht nimmt, den Urlaub aber genommen hätte, wenn nicht der Arbeitgeber die Vergütung für genommene Urlaubszeiten verweigern würde, kann dann der Arbeitnehmer geltend machen, dass er an der Ausübung seines Anspruchs auf bezahlten Urlaub gehindert ist, so dass der Anspruch so lange übertragen wird, bis der Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs hat?
- Wenn der Anspruch übertragen wird, erfolgt die Übertragung dann zeitlich unbegrenzt oder gilt ein begrenzter Zeitraum für die Ausübung des übertragenen Anspruchs?
Der Gerichtshof bezog konsequent Stellung zugunsten von Mr. King. Der Arbeitgeber konnte nach Auffassung des EuGH nur Vorteil aus der Tatsache gezogen haben, dass Mr. King keinen Urlaub in Anspruch nahm. Darüber hinaus sei es primär Pflicht des Arbeitgebers, korrekt zu befinden, dass eine Person, die für ihn innerhalb eines Abhängigkeitsverhältnisses bzw. unter seiner Weisungsgewalt tätig ist, die Rechte eines Arbeitnehmers genießt.
Aus diesen Gründen heraus schloss der Gerichtshof, dass ein „Arbeitnehmer“, der deshalb keinen Urlaub in Anspruch nimmt, weil ihn der Arbeitgeber hierfür nicht bezahlt, einwenden kann, dass der Arbeitgeber ihm die Inanspruchnahme von Urlaub verwehrt hat. In einem solchen Fall dauert das Recht des „Arbeitnehmers“ auf bezahlten Urlaub solange fort, bis dem „Arbeitnehmer“ ermöglicht wird, bezahlten Urlaub zu nehmen, oder bis zur Beendigung des fraglichen Arbeitsverhältnisses.
Von daher hat Mr. King das Recht auf rückwirkende Entschädigung für nicht genommenen Urlaub seit Beginn seiner Zusammenarbeit mit Sash WW, und zwar deswegen, weil der Arbeitgeber nicht davon profitieren darf, dass er es dem Arbeitnehmer nicht ermöglichte, Urlaub zu nehmen. Der EuGH wollte diesbezüglich die Einwendung nicht gelten lassen, es sei Mr. King im Laufe der Jahre seitens Sash WW angeboten worden, für die Gesellschaft in einem „regulären“ Arbeitsverhältnis tätig zu werden, er selbst habe aber dieses Angebot ausgeschlagen.
Es ist nicht schwer zu verstehen, warum diese Entscheidung solches Aufsehen hervorgerufen hat. Mitarbeiter, die fälschlich als „Freiberufler“ kategorisiert wurden und keinen Urlaub nahmen (weil dieser vom Arbeitgeber nicht bezahlt wurde), erhalten mit dieser Entscheidung ein Instrument an die Hand, mit dem sie rückwirkend finanziellen Ausgleich für den nicht genommenen Urlaub erwirken können (wobei der EuGH in seiner Entscheidung keine Beschränkungen hinsichtlich des Zeitraums ausgesprochen hat, innerhalb dessen eine Entschädigung gefordert werden kann).
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Sachen King gegen Sash WW hat im Rahmen des Trends hin zur sog. „Gig Economy“ die Gewichtung merklich zugunsten der „Mitarbeiter“ verschoben, und damit Tür und Tor geöffnet für einen Ausgleich der Rechte von „Mitarbeitern“, denen aus diversen (zumeist wirtschaftlichen) Gründen der Status eines Arbeitnehmers versagt geblieben ist.