Common Law-Auswirkungen auf das estnische Rechtssystem

Estland: Urteil des estnischen Staatsgerichtshofes bricht Ansatz, der fast 20 Jahre lang unumstritten war.

Urteil des estnischen Staatsgerichtshofes bricht Ansatz, der fast 20 Jahre lang unumstritten war.

Estland gehört zum kontinentaleuropäischen Rechtskreis, in welchem das prositive Recht die zentrale Rechtsquelle ist. Aber die Einflüsse des auf Rechtsprechung basierenden angloamerikanischen Rechtssystems werden immer deutlicher. So ändert zum Beispiel ein kürzlich ergangenes Urteil eine Rechtsauffassung, die seit fast 20 Jahren unumstritten war, von Grund auf.

Die Finanzämter und weitere Betroffene sind bisher davon ausgegangen (und haben sich dabei auf ein Urteil des Staatsgerichtshofes aus dem Jahre 2001 gestützt), dass ein Erbe bei einem Verkauf des Erbguts nicht berechtigt ist, vom zu versteuernden Erlös Kosten abzuziehen, die zuvor dem Erblasser im Zusammenhang mit diesem Gut entstanden sind (z. B. Anschaffungs- oder Renovierungskosten). Der Erlös wurde also voll versteuert. Da es in Estland keine Erbschaftssteuer gibt, bedeutete dies praktisch, dass das Erbe dennoch versteuert wurde – nämlich bei einem Verkauf des Erbgutes.

Nun nahm das gleiche Gericht am 12. Februar 2014 die gegenteilige Position ein und urteilte, dass solche Kosten (sofern belegbar) sehr wohl abzugsfähig seien.

Das Gericht befand, dass das Recht, den Ertrag aus einer Eigentumsveräußerung um die Anschaffungskosten zu kürzen, ein „gewöhnliches Eigentumsrecht“ und nicht untrennbar mit dem Erblasser verbunden sei. Gemäß dem Gleichbehandlungsgrundsatz ist ein Erbe in der gleichen Weise zu besteuern wie der Erblasser zu besteuern gewesen wäre, wenn er das Eigentum zu Lebzeiten veräußert hätte. Es wird hier zwischen Erbfall und Schenkung unterschieden: Letztere ist eine Veräußerung, die das Vermögen des Schenkenden vermindert, während der Beschenkte keine Anschaffungskosten hat und das Recht zum Abzug der Anschaffungskosten daher nicht auf den Beschenkten übergehen kann. Eine Erbschaft stellt aber weder eine Veräußerung für den Erblasser noch einen Erwerb für den Erben dar, sondern ein Träger von Rechten in einem bestehenden Eigentumsverhältnis wird durch eine andere Person ersetzt.

Fortan kann also ein Erbe, wenn er das Erbgut verkauft, den vom Erblasser gezahlten Kaufpreis guten Gewissens in seiner Steuererklärung vom Verkaufserlös abziehen. Personen, die im Jahr 2010 oder später nach diesem Prinzip zu viel Einkommenssteuer gezahlt haben (schätzungsweise an die tausend Erben), können nun ihre Steuererklärungen korrigieren und die nach der alten Definition gezahlte Einkommensteuer vom Staat zurückverlangen; hat der Erbe das Erbgut jedoch früher verkauft, bleibt ihm nur das Wissen, eigentlich Recht gehabt zu haben, das er nur hätte gerichtlich durchsetzen müssen.

Quelle: Urteil Nr. 3-3-1-97-13 der Verwaltungskammer des Staatsgerichtshofes vom 12. Februar 2014

Ansprechpartner in Tallinn:
Aet Bergmann
Tel.: +372 667 6240

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