Wissen nur des Arbeitsnehmers um betrügerische Aktivitäten – Zurechnung?

Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, auf wessen Wissen es ankommt bezüglich tatsächlicher Umstände eines Rechtsgeschäfts

Am 27. September 2022 entschied der Oberste Gerichtshof über eine Kassationsbeschwerde der estnischen Steuer- und Zollbehörde. Diese hatte zuvor einen Steuerbescheid gegen ein estnisches Unternehmen erlassen und das Unternehmen zur Zahlung eines sechsstelligen Betrags wegen unberechtigten Vorsteuerabzugs aufgefordert. Der Steuerbescheid wurde in erster Instanz aufgehoben, was in zweiter Instanz bestätigt wurde. Nun hob der Oberste Gerichtshof die Entscheidung auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück.

Hintergrund des Steuerbescheids war, dass Waren ohne Mehrwertsteuer von Dritten gekauft und über sogenannte „Schattenverkäufer“ mit Mehrwertsteuer an das vom Steuerbescheid betroffene Unternehmen verkauft worden seien. Die eingenommene Mehrwertsteuer sei nicht an den Staat abgeführt worden, sondern unter den beteiligten Personen – unter anderem dem Einkaufleiter des betroffenen Unternehmens – geteilt worden. Das betroffene Unternehmen selbst, welches nach Aussage des Einkaufsleiters und der Geschäftsführung des Unternehmens nichts von diesen Vorgängen gewusst habe, habe Vorsteuerabzug geltend gemacht.

Die ersten beiden Instanzen entschieden, dass dem Unternehmen aufgrund der von den Gerichten getroffenen Feststellungen das Wissen des Arbeitnehmers nicht zugerechnet werden könne bzw. dass das Unternehmen nicht von den Aktivitäten wusste oder hätte wissen können, und hoben deshalb den Steuerbescheid auf.

Der Oberste Gerichtshof entschied nun, dass das Vertretungsrecht anwendbar sei. Danach komme es auf das Wissen des Vertreters an und nicht auf das des Vertretenen. Der Arbeitnehmer habe als Einkaufsleiter die Befugnis gehabt, das Unternehmen im Rahmen der Einkäufe zu vertreten und in dessen Namen Rechtsgeschäfte abzuschließen. Insofern sei sein Wissen ausschlaggebend. Dabei sei unerheblich, ob er die Aktivitäten der Geschäftsführung verheimlicht habe oder zu seinem eigenen Vorteil gehandelt habe. Sollte dem Arbeitgeber dadurch ein Schaden entstehen, hafte der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber gegenüberprivatrechtlich oder ggf. strafrechtlich.

Diese Entscheidung dürfte insoweit zu beachten sein, als dass – nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs – das Wissen eines Arbeitnehmers, der mit Vertretungsmacht ausgestattet worden ist, über tatsächliche Umstände im Zusammenhang mit Rechtsgeschäften des Unternehmens als Kenntnis des Unternehmens anzusehen ist, selbst wenn der Arbeitnehmer diese Tatsachen verheimlicht und/oder nur zu seinem eigenen Vorteil handelt.

 

Quelle: Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 27. September 2022, Aktenzeichen 3-17-523

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