Tschechien: Ist in Verträgen unter Vollkaufleuten eine Abweichung von den gesetzlichen Rücktrittsregelungen möglich?

Supreme Court decision 23 Cdo 2637/2020 of 29 March 2022 has made clear that the parties to a contract may agree to deviate from the general rules on withdrawal, and that agreeing on the effects of a withdrawal from contract is entirely optional.

Beim Rücktritt vom Vertrag handelt es sich um eine der wichtigsten Formen der Auflösung eines nicht verwirklichten schuldrechtlichen Verhältnisses; dort, wo eine der Parteien befindet, dass der fragliche Zweck des Vertrags hinfällig geworden ist, kommt er gängig zum Einsatz.  Da nun aber der Vertragsrücktritt der zurücktretenden Partei mit recht weitreichenden Konsequenzen verbunden ist, ist dieses Rechtsinstitut eng mit der Anforderung geknüpft, dass das Vorliegen (gesetzlicher oder vertraglicher) Rücktrittsgründe nachgewiesen wird.  Die allgemeine Regelung zum Vertragsrücktritt ist in den §§ 2001 – 2005 BGB-cz[1] enthalten; freilich enthält das Bürgerliche Gesetzbuch außerdem an zahlreichen Stellen Sonderrechtsvorschriften betreffend den Vertragsrücktritt – so z.B. im Verzugsfall (§§ 1977ff).

Die Diskussion darum, ob die allgemeinen Regelungen zum Vertragsrücktritt abdingbar sind, dauert im Grunde seit Inkrafttreten des „neuen“ Bürgerlichen Gesetzbuchs an.  Dieses fußt geradezu auf dem Grundsatz der Abdingbarkeit – was nicht verboten ist, ist erlaubt.  Gleich eingangs in § 1 Abs. 2 schreibt das BGB-cz fest: „Soweit vom Gesetz nicht ausdrücklich verboten, können Personen Rechte und Pflichten abweichend vom Gesetz vereinbaren“, zieht dieser Freiheit dann aber sofort Grenzen in Form diverser Korrektive: „verboten sind Vereinbarungen, die den guten Sitten, der öffentlichen Ordnung oder den Persönlichkeitsrechten (einschl. des Rechts auf Schutz der Privatsphäre) entgegenstehen[2].   Die Vorschrift zum Vertragsrücktritt in § 344 des Handelsgesetzbuchs war ursprünglich abdingbar; im Zuge eines Änderungsgesetzes (Ges. Nr. 370/2000 Slg.) wurde sie aber in ein Verzeichnis zwingender Bestimmungen gem. § 263 aufgenommen.  Das Rechtsinstitut des Vertragsrücktritts im neuen Bürgerlichen Gesetzbuch sollte von daher auf das einstige Handelsgesetzbuch aufbauen[3].

Professor Karel Eliáš selbst, der bei der Ausarbeitung des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs federführend Pate stand, hält § 2001 für unabdingbar, erstens wegen dessen Genese aus dem Handelsgesetzbuch heraus, und zweitens deswegen, weil die Unmöglichkeit eines Vertragsrücktritts sittenwidrig wäre[4]; diesbezüglich vertritt Eliáš dieselbe Position wie die einschlägige Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 2007[5] (die allerdings noch auf dem Handelsgesetzbuch von 1991 basierte).  In dieser Entscheidung befasste sich der OGH zwar nicht direkt mit dem abdingbaren bzw. zwingenden Charakter von § 344 HGB-cz (der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses unzweifelhaft abdingbar gewesen war), führte aber ausdrücklich aus, ein grundsätzlicher Ausschluss der Möglichkeit des Rücktritts von einem Vertrag sei sittenwidrig.  In den Worten des Gerichts: „Eine solche Abrede würde es selbst bei flagrantem Vertragsbruch seitens der anderen Partei unmöglich machen, das Vertragsbündnis zu lösen; der andere Beteiligte müsste für lange Zeit im Schuldverhältnis verweilen und hätte im Grunde keine Möglichkeit zur Wahrung seiner Rechte[6]; deshalb haben solche Abreden nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs als nichtig zu gelten.

Eine andere Auffassung wird von Dozent Josef Šilhán vertreten, dem zufolge die Bestimmung des § 2001 zwar zwingenden Charakters ist, generell aber – ungeachtet der o.g. OGH-Entscheidung – ausgeschlossen werden kann.  Šilhán würde die Unzulässigkeit eines solchen Vorgehens erst dort bejahen, wo es zu einem erheblichen Ungleichgewicht zwischen den Parteien führt[7].

Dozentin Ivana Štenglová hat eine dritte abweichende Rechtsauffassung: sie hält die fragliche Bestimmung des § 2001 für völlig abdingbar, denn für sie ergibt sich aus der Bestimmung, dass der Umfang der Rücktrittsgründe von den Vertragsparteien nicht nur erweitert, sondern eben auch eingeengt werden kann[8].

Erst im Frühjahr dieses Jahres unternahm der Oberste Gerichtshof den Versuch, Klarheit in dieses Auslegungsproblem zu bringen, beantwortete aber letztlich nur einen Teil der offenen Fragen.  Laut OGH „ist es angebracht, die Regelungen zu den Rechtswirkungen des Vertragsrücktritts und der Auseinandersetzung zwischen den Parteien im Gefolge eines solchen Rücktritts als grundsätzlich abdingbar zu betrachten.  Die Vertragsparteien können (im Rahmen der allgemeinen Korrektive) für den Fall eines Rücktritts vom Vertrag Rechtswirkungen und eine Abwicklung der gegenseitigen Verpflichtungen vereinbaren, die von der Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch abweichen[9].  Der OGH führte des Weiteren aus, das BGB-cz enthalte kein implizites Verbot der vertraglichen Abweichung von diesem rechtlichen Rahmen, und eine diesbezügliche Abrede zwischen den Parteien sei a priori nicht als Verstoß gegen die guten Sitten, die öffentliche Ordnung oder die Persönlichkeitsrechte zu werten.[10]  Schließlich erwähnte das Gericht noch, „der Gesetzgeber [sei] davon ausgegangen, dass die Parteien Bedingungen für den Rücktritt vom Vertrag vereinbaren können, die von den gesetzlichen Bedingungen abweichen[11].

Damit ist es gemäß der erwähnten Entscheidung des Obersten Gerichtshofs möglich, von der allgemeinen gesetzlichen Regelung im BGB-cz abweichende Bedingungen für den Vertragsrücktritt zu vereinbaren (wobei aber die Korrektive der guten Sitten, der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der Persönlichkeit, die mit dieser Frage eng verknüpft sind, weiterhin beachtet werden müssen).  Des Weiteren gilt gemäß der erwähnten Entscheidung, dass für den Rücktritt vom Vertrag außerdem vom Gesetz abweichende Wirkungen vereinbart werden können, da die fragliche Regelung voll abdingbar ist; deshalb kann eine entsprechende vertragliche Abrede nicht automatisch als sittenwidrig gelten.  Zur Frage, ob aber die Möglichkeit des Vertragsrücktritts vollständig ausgeschlossen werden kann, äußerte sich der Oberste Gerichtshof hingegen nicht, so dass diesbezüglich weiterhin Raum für Diskussionen besteht.  Persönlich neige ich der Auffassung von Josef Šilhán zu, da m.E. in Beziehungen unter Vollkaufleuten eine größere Vertragsfreiheit gelten sollte (als z.B. in Verbraucherbeziehungen); solange damit kein außerordentliches Missverhältnis zwischen den Parteien geschaffen wird, ist für mich nicht ersichtlich, warum der Ausschluss der fraglichen Bestimmungen aus Verträgen problematisch sein sollte (insoweit dieser nicht sittenwidrig ist).  Zugleich finden wir im Gesetz kein (ausdrückliches oder auch nur implizites) Verbot des Ausschlusses der gesetzlichen Bestimmungen, wie es im Zuge der Neufassung des Handelsgesetzbuchs in Ges. Nr. 370/2000 Slg. ausgesprochen wurde.  Auch würde ein Ausschlussverbot einem der grundlegendsten Prinzipien des Bürgerlichen Gesetzbuchs zuwiderlaufen: dem der Abdingbarkeit.  Und nicht zuletzt ist auch der Schluss statthaft, dass die in der Praxis vorherrschende Interpretation den vollständigen Ausschluss der betreffenden Bestimmungen sehr wohl ermöglicht, denn sonst wäre er kaum so überaus gängig wie wir beobachten.  Freilich harren wir noch immer einer offiziellen Auslegung aus den Händen des Obersten Gerichtshofs, bzw. gegebenenfalls einer Gesetzesänderung, aus der die „korrekte“ Auslegung klar hervorgeht.

[1] Ges. Nr. 89/2012 Slg., Bürgerliches Gesetzbuch
[2] Ges. Nr. 89/2012 Slg., Bürgerliches Gesetzbuch, § 1
[3] Ges. Nr. 513/1991 Slg., Handelsgesetzbuch
[4] Eliáš: http://www.bulletin-advokacie.cz/k-pojeti-dispozitivniho-prava-v-obcanskem-zakoniku
[5] Entscheidung 32 Odo 1043/2004 des Obersten Gerichtshofs vom 28.7.2007
[6] Entscheidung 32 Odo 1043/2004 des Obersten Gerichtshofs vom 28.7.2007
[7] HULMÁK, Milan et al.: Občanský zákoník V. Závazkové právo. Obecná část (§ 1721-2054). Komentář. [Bürgerliches Gesetzbuch. Schuldrecht. Allgemeiner Teil (§§ 1721-2054). Kommentar]. 1. Aufl. Prag: C. H. Beck, 2014, S. 1194
[8] ŠTENGLOVÁ, Ivana. Odstoupení od smlouvy o dílo [Der Rücktritt vom Werkvertrag]. Právní rozhledy, 2017, Nr. 1, S. 1-6
[9] Entscheidung 23 Cdo 2637/2020 des Obersten Gerichtshofs vom 29.3.2022
[10] Entscheidung 23 Cdo 2637/2020 des Obersten Gerichtshofs vom 29.3.2022
[11] Entscheidung 23 Cdo 2637/2020 des Obersten Gerichtshofs vom 29.3.2022

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